"Es ist nicht leicht, jemandem zu erklären, was Freiheit ist, der sie besitzt." (Erich Loest)
Man kann es sich im Jahr 2014 kaum noch vorstellen, mit welch unglaublicher Rasanz sich die DDR auflöste. Ein Land, das mit deutscher Gründlichkeit einbetoniert wurde, zerbröselte innerhalb weniger Monate. Am 7. Oktober 1989 waren anlässlich der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Landes noch Hunderttausende an der Tribüne vorbeigezogen, auf der Honecker und Mielke standen und huldvoll winkten. Diktatur meint nicht nur die Anmaßungen und Bedrängungen eines totalitären Systems, sondern weit mehr. Die Tyrannei, die den Hintergrund dieses Romans bildet, ist ein Geflecht mehrerer autoritärer Systeme. Die Freiheitserzählung der westlichen Welt traf frontal auf die emanzipatorische Gerechtigkeitserzählung des Sozialismus. Und am 18. März 1990 fand die erste freie und geheime Wahl zur Volkskammer statt.
Die SED-Führung neigt dazu, von Tatsachen beleidigt zu sein
In seinem Roman “Abgeschlossenes Sammelgebiet” macht A.J. Weigoni den Querschnitt eines gesellschaftlichen Universums sichtbar wie einen mit einer Glasscheibe durchschnittenen Ameisenhaufen. Er umkreist das Gefühl, eingesperrt zu sein im falschen Leben, den Zwang, die allgegenwärtige Kontrolle und eine Ideologie, die noch bis hin die letzte Nische des Lebens vordringen wollte. Der Ost-West-Deutschland-Komplex, die Wende, die in Wahrheit den Zusammenbruch gleich zweier Staaten nach sich zog, den der DDR und den der alten Bundesrepublik bildet den Mentalitätsgrund, auf dem sich seine Figuren bewegen. Er erzählt viele Geschichten zugleich und geht in keiner von ihnen vollständig auf. Es ist eine Prosa, die niemals in Stocken gerät, die gleichmäßig, Satz für Satz, fließt und sich nacherzählend am Glück der hergestellten Gegenwart labt. Ein Lustrum nach Uwe Tellkamps "Der Turm" legt dieser Romancier seine "Geschichte aus einem versunkenen Land" vor. Auch “Abgeschlossenes Sammelgebiet” ist ein voluminöser Roman, er beginnt 1989 zur Zeit der friedlichen Revolution und endet bereits im März 1990. Abseits solcher äußerlicher Ähnlichkeiten aber ist Weigonis im November 1989 einsetzender Roman geradezu ein Gegenentwurf zu Tellkamps preisgekröntem Werk, zuerst in sprachlicher Hinsicht: Weigoni ist ein überbordend lebenspraller Erzähler mit einem ungeheuren Sinn für die Ausdruckskraft von Dialekt und Jargon, von Stadion-Gesängen, Losungen und dämlichen Partei-Parolen. Wo bei Tellkamp nicht selten der schwergängige Lyrismus steht, findet sich bei Weigoni ein lediglich salopper, in Wahrheit äußerst kunstfertiger, nicht von ungefähr volksliedhafter Ton. Wem die Lektüre des "Turms" bisweilen eine Mühsal war, dem wird dieses Buch eine Lust sein. Weigoni stellt die Schrulligkeiten seiner Charaktere nicht aus, sondern untersucht deren Eigengesetzmäßigkeiten, er unterscheidet in seinem Roman zwischen äußerer und innerer Einheit. War jene eine Sache rascher Entscheidungen, so war diese eine verfassungspatriotische Aufgabe von der Art einer Selbstfindung. Von außen nach innen fortzuschreiten, damit entlarvt Weigoni die Tragik der paradiesischen Monotonie in der BRD und den deutschen Kult der Innerlichkeit ebenso, wie die Kluft zwischen dem Anspruch des SED-Staates und der Lebenswirklichkeit, die immer tiefer und zuletzt unüberbrückbar wurde.
Aus einer éducation sentimentale wird eine éducation politique
Das Leben mag vor diesen Figuren liegen, aber die Geschichte sitzt ihnen dabei immer im Nacken. Weigoni spart nicht an Personen und nicht an Situationen und Konstellationen, in die seine Typen verwickelt werden, er verknüpft die Schicksale geschickt, es gibt keine losen Enden, da werden unzählige Geschichten geschickt miteinander verbunden und episch ausgefaltet. Dieser Roman erfordert ein gerüttelt Maß an Konzentration, wer sich darauf einlässt, begibt sich in ein Lese–Exerzitium. Die Sprache ist ebenso Bewegung und Aktion. Der Leser taucht ein in den gärenden Prozess von Erinnerung und Sprachfindung, was sich in Wort-Staccatos, Satzellipsen, Kursivsetzungen, Bildwechseln, Einschüben, Fragen, Ausrufen und Dialektausdrücken niederschlägt. In “Abgeschlossenes Sammelgebiet” hat Weigoni mit unerschöpflicher Beobachtungsenergie, erzählerischer Phantasie und sprachlicher Erfindungskraft die Grenzen dessen, was wir für unsere alltägliche Wirklichkeit halten, neu erkundet und in Frage gestellt. Er zeichnet Vergangenes so anschaulich und verständlich, dass das kleine Land wiederaufersteht, ohne dass es auf einen Sockel gehoben oder verniedlicht wird. Da prallen das Altkommunistisch-Dogmatische, Idealische, Opportunistisch-Diktatorische, Zynische, Angepasste, Schizophrene, Aussteigerische, Nihilistische, und das Primitiv-Proletarische hart aufeinander. Es ist ein ebenso faszinierendes wie entsetzliches, ziemlich komplexes und dabei jedem einleuchtendes DDR-Panoramabild. Garniert mit sowohl tragischen als auch fantastisch-zukunftsträumerischen Einschüben. Weigoni interessieren die Bruchkanten der Gesellschaft, die Widerstände und Widersprüche im Zusammenleben der Menschen. Ihm ist ein fulminanter Roman auf höchstem sprachartistischen Niveau gelungen, der durch seine bildhafte Sprache und seine unerwarteten Verknüpfungen besticht. In seiner Prosa vertrieft er die Wahrnehmung der deutschen Gegenwart in Bereiche des Satirischen, Legendenhaften und Phantastischen. Philosophische und religiöse Grundfragen der Existenz entfaltet der Schriftsteller in einer subtilen Auseinandersetzung mit großen literarischen Traditionen und mit erfrischendem Sprachwitz.
Es gibt viele Nationen - aber nur eine Zivilisation
„Wir fliehen vor unserer eigenen Vergangenheit. Die Zukunft verfolgt uns“, postulierte Vilém Flusser. Dieser Roman bringt die asynchronen Bestandteile der deutschen Gesellschaft miteinander in Verbindung und stellt in einer antidiskursiven, elliptischen Sprache mit kurzen, direkten Sätzen ohne explizite Verknüpfung die Frage, was die Identität des neuen Deutschlands sein soll. Weigoni wechselt zwischen verschiedenen Tonarten und Textsorten hin und her, zwischen genauen Wirklichkeitsbeschreibungen und ins Surreale spielenden Bildern, sie eignet sich verschiedene Stimmen an, verändert von Kapitel zu Kapitel die Perspektive. “Abgeschlossenes Sammelgebiet” erzählt vom Absturz eines großen Ideals, das nicht bewohnbar ist. Zutage kommt eine Wahrheit, die keinen schont, denn auch die Losung „Wir sind das Volk“ endet als ein nicht eingelöstes Versprechen der Aufklärung. Die Eingängigkeit des Romas, beruht darauf, dass er wirklich etwas erzählt. Für ästhetische oder moralische Sinnprogramme ist Weigoni nicht anfällig. Alternative Narrationen anbieten, das, nicht weniger ist die Arbeit der Schreibkundigen. Mit den so genannten 68ern ist es so, wie mit allen Revolutionen, die sich auf Dauer einrichten, ist es leider so: erst werden sie totalitär, dann glanzlos und schließlich lächerlich. Als neugieriger Melancholiker gelingen Weigoni meisterliche Genreszenen einer zerbröselnden Westberliner Subkultur, pointillistische Feinmalereien einer Lebenswelt zwischen Rebellion und Frustration. Grenzen sind gefallen, dennoch wirken sie fort, metaphorisch in den Köpfen, real für die vielen, die weiterhin ausgeschlossen bleiben. Es ist die Chance der Literatur, die fortbestehenden Grenzen bewusst zu machen und dort Farbe zu bekennen, wo andere ihren Namen nennen und ihre Farbe bekennen müssen.
Das Unterholz deutscher Geschichte
Erst der kritische Blick zurück, die aufwendige Rekonstruktion eines historischen Moments und der darin agierenden Menschen, kann die damalige Zeit erklären, ihr wahres Gesicht zeigen. Das ist Weigonis Überzeugung und der Antrieb des Buches, sein moralischer Impetus. “Abgeschlossenes Sammelgebiet” ist Mentalitäts- und Alltagsgeschichte im Breitbandformat, die den großen Wendungen eher beiläufig Beachtung schenkt, hier werden verschiedene Handlungsstränge auf chronologisch raffinierte Weise miteinander verflochten. Weigoni nimmt ein Land und seine Widersprüche unter die Lupe. Als Schriftsteller hat er keinerlei Interesse an den ausgeleierten Strategien einer Avantgarde, die in Transparenz und Kohärenz, im Wunsch nach Erzählung und Identifikation einen Ausverkauf der Literatur wittert und das Schreiben in eine Art Freimaurertum ummünzen möchte; ebenso abstoßend findet er die Dümmlichkeit einer Kulturvermarktung, die Kunst und Literatur als reines – und leicht entbehrliches – Dekor behandelt. Dieser Romancier erzählt bisweilen mit liebevoller Ironie von seinen Figuren, die sich in einem ständigen emotionalen Ausnahmezustand befinden. Weigoni geht es um das Einfangen von Leben, Gesten und Blicken, Sprechweisen, um die Atmosphäre von Anarchie, Radikalität und Erneuerung und schließlich das Auseinanderdriften der Lebensentwürfe zwischen politischer Arbeit, Parties, Drogen und militantem Untergrund. Die barocke Fülle erinnert an Dostojewski wenn Weigoni das Motiv der Gefangenschaft aufnimmt, was ganz vorzüglich für eine Parabel über das Leben in der DDR taugt. Das bedeutet Witz, Schärfe, Ironie, und es meint zugleich Seele, Sentiment, ja schwärmerische Seitensprünge – von der Literatur ins Politische, von der Essayistik in die polemisch aufgekratzte Postille. Nach der Lektüre von “Abgeschlossenes Sammelgebiet” erscheint die moralische Umbruchperiode der achtziger Jahre in einem neuen Licht. Bei Weigoni waltet in unserer Zeit der Weichspül-Floskeln und der heraufziehenden Diktatur einer political correctness die Unerschrockenheit eines Menschen, der noch den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Nach der Lektüre von “Abgeschlossenes Sammelgebiet” erkennt man, dass dem Kapitalismus mit dem Zusammenbruch des Sozialismus das Korrektiv, die gedankliche Alternative abhanden gekommen ist. Weigoni hält es für unproduktiv, wenn sich das Gegenüber als Sieger fühlen kann, er fürchtet um die Menschenwürdigkeit der Verhältnisse, in denen sie künftig leben.
Liebe und Bewussteinsphilosophie in der Zeitschleuse
Wer den sicheren Erfolg sucht, muss gefallen wollen, das war für diesen kompromisslosen Schriftsteller nie eine Option. In seinem ersten Roman zeigt sich Weigoni als Sprachvisionär, Existenzdurchdringer und Gesellschaftskritiker. Für ihn ist der Widerspruch die tägliche Umgangsform, er ist ein freier Geist, niemandem verbunden als sich selbst; Schreiben ist ihm gesteigertes Leben. Einspruch erheben gegen die Zumutungen der Politik, sich nicht vereinnahmen lassen, arbeiten und leben mit aufrechtem Gang. Nicht Lob, nicht Anfeindungen, die es gibt, können ihn von seinen Positionen abbringen. Der Ton ist souverän. Haltung bewahren. Offen sein und neugierig. Als ein politischer Schriftsteller sieht sich er sich nicht, ihm geht es um den Menschen, um Moral und Lebenslügen, Selbstbetrug und Enttäuschungen, um Freundschaft und Liebe über Grenzen hinweg, um fließende Identitäten - mehr als um Widerstand gegen Unterdrückung. Dabei neigt er eher dazu, Fragen zu stellen als klare Antworten zu geben. Dieser Romancier gestattet einen Blick in die Zukunft, der als Bericht aus der Vergangenheit daherkommt. Noch einmal von vorn zu denken anfangen, das hat sich Weigoni mit diesem Roman zur Aufgabe gemacht. Hinterfragen, bewusste und unbewusste Schweigegebote brechen, Vergangenen in die Gegenwart zurückerzählen. Er sucht nach den Zusammenhängen zwischen sozialen und individuellen Symptomen und deren historischen Wurzeln in der Politik, in den Familien, immer tiefenscharf die Generationen durchleuchtend, stets die Gegenwart im Blick. Es geht um ein Erbe, das man nicht ausschlagen kann, so fest man die Augen auch zukneift. Er gewinnt dem Material etwas ab, wofür es eigentlich nicht geschaffen wurde. Am Schluss geht es nicht um ein Happy ending, sondern darum, das Gewicht des eigenen Daseins auszuhalten. Dieser Roman ist ein Novum innerhalb Deutschlands ausdifferenzierter Literatur.
Jo Weiß
“Abgeschlossenes Sammelgebiet”, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 - Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover
Erhältlich über: info@tonstudio-an-der-ruhr.de